Dienstag, 28. Juni 2016

Exit nach dem Brexit

Britische Flaggen vor dem Big Ben

Ein Premierminister auf Abruf, ein Oppositionschef, dem die Gefolgsleute davonlaufen: Das Brexit-Votum hat die politischen Gräben in Großbritannien vertieft. Nun werden Rufe nach Persönlichkeiten laut, die das Land einen statt es aus politischem Kalkül weiter zu spalten.


Premierminister David Cameron hat für den Vormittag sein Kabinett einberufen, um über das weitere Vorgehen nach dem Brexit-Votum zu beraten. Nach Camerons Rücktrittsankündigung muss bis zum Parteitag der Konservativen im Oktober ein neuer Regierungschef gefunden sein.

Als heiße Kandidatin neben Brexit-Befürworter und Kampagnenführer Boris Johnson wird inzwischen Brexit-Gegnerin und Innenministerin Theresa May gehandelt. Viele Tory-Abgeordnete fordern, die neue Persönlichkeit an der Partei- und Regierungsspitze müsse nach der Spaltung der Partei und des britischen Volkes integrativ sein und nicht notwendigerweise für den Brexit.

Sonntag, 26. Juni 2016

EU braucht dringend Reformen


Europa hat an den Brexit nie wirklich geglaubt. Zu unvorstellbar schien es, dass vor den Türen dieser Gemeinschaft die Bewerber Schlange stehen, während ein Mitglied dieser Familie Fördergelder, bevorzugte Behandlungen und Marktchancen ausschlägt, um wieder auf eigenen Füßen zu stehen.

Es hilft wenig, dieses verlorene Referendum als Sieg der Demagogen über die politische Realität zu beschreiben. Wer Demokratie sät, muss mit der Ernte leben. Die Union hat eine Quittung bekommen für Versäumnisse, Fehler und institutionelle Überheblichkeit. Als ob das, was man nun als Lehren aus der Volksabstimmung Reform für die Zukunft nennt, nicht schon länger und früher bekannt gewesen wäre.

Wer bei den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP, die Richtlinie zur Frage, ob die öffentliche Wasserversorgung privatisiert werden darf, oder die nicht enden wollende Bevormundung im Umwelt- und Verbraucherschutzbereich hinhörte, hätte die wachsende Verbitterung der Bürger wahrnehmen können – und müssen. Welchen Wert hat eine Union, die sich angesichts der Flüchtlingskrise nicht einigen und Schuldenstaaten, die auf Kosten anderer leben, nicht zur Räson bringen kann?

Diese EU braucht Reformen, die weiter gehen, als ein paar demokratische Placebos zu verabreichen. Sie muss beweisen, dass es sie zu Recht gibt, weil sie Probleme lösen und nicht nur besprechen kann.

Natürlich ist es richtig, dass die Fehler, die man nur allzu gerne der EU ankreidet, häufig von den Mitgliedstaaten zu verantworten sind. Weil sie gemeinsame Beschlüsse ausbremsen – und damit das Bild einer Union entstehen lassen, die zu Lösungen nicht fähig ist.

Es ist die Gewissheit, dass die europäischen Mitgliedstaaten zusammen etwas erreichen können, die abhanden kam. Wenn nun die Staats- und Regierungschefs der verbleibenden 27 EU-Staaten dem Ratspräsidenten in die Hand versprochen haben, sie würden bleiben und an der Einheit weiterarbeiten wollen, bleibt das so lange ein leeres Versprechen, bis Ergebnisse ablesbar sind.

Die Gelegenheit zur Abkehr vom nationalen Schaulaufen gibt es bereits in der kommenden Woche. Eine solidarische Vereinbarung zur Flüchtlingskrise würde beispielsweise überzeugen. Das übliche Reform-Gerede ganz sicherlich nicht.

Europa ohne Zukunft


Europa steht eine schwere Prüfung ins Haus - mal wieder. In wenigen Wochen stimmen die Briten über ihren Verbleib in der Europäischen Union ab. Und auch in anderen EU-Staaten gärt es. Es stellt sich die Frage: Was hält Europa noch zusammen? 

Wenn es um die Frage nach dem Grund für den Zusammenhalt in der EU geht, ist die Antwort für Deutschland häufig: die Wirtschaft. Viele deutsche Firmen importieren Rohstoffe aus der EU, veredeln sie und exportieren sie – die "German Factory" im Herzen des Kontinents, sie brummt. So wie beim Saftproduzenten Niehoffs Vaihinger aus dem pfälzischen Lauterecken. Das Unternehmen importiert Säfte aus den Niederlanden, Italien sowie Frankreich und veredelt sie. "Für uns ist Europa erstmal ein großer Markt, ein zusammengewachsener Markt. Und das hat für uns schon riesige Vorteile gegenüber einer Situation, wo wir eben nur Kleinstaatlichkeit haben", sagt Betriebsleiter Reiner Kressmann.


Während EU-kritische Stimmen in Deutschland noch in der Minderheit sind, treten die EU-skeptischen Scharfmacher in Polen auf vielen Ebenen auf. Bei Demonstrationen wird deutlich, dass Deutschlands Nachbar tief gespalten ist in der Frage, was Europa zusammenhält. Während die einen für die EU argumentieren, wendet sich die neue polnische Regierung von Brüssel ab.

Polen liegt an der Spitze der EU-Subventionsempfänger: Umgerechnet entfallen im aktuellen EU-Haushalt auf jeden Bürger Polens 500 Euro. Doch eine moderne Infrastruktur ist das eine – die hohen Kosten im Alltag sind das andere: Das Versprechen auf Wohlstand – die EU hat es gerade in den Augen der jungen Polen nicht eingelöst. Aleksandr Kwasniewski hat das Land als Präsident 2004 in die EU geführt - mit dem Versprechen auf Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Die derzeitige Entwicklung – für ihn beunruhigend. "Der nationale Egoismus und die Arroganz nehmen zu, auch populistische Ideologien."


Wenn die Briten am 23. Juni über den Brexit abstimmen, dann ist das auf der Insel auch eine Abstimmung über das Thema Zuwanderung: Rund zwei Millionen Europäer, an erster Stelle Polen, sind seit der Osterweiterung 2004 nach Großbritannien gekommen. Im englischen Küstenstädtchen Boston machen Einwanderer aus Osteuropa inzwischen 15 Prozent der Bevölkerung aus. Das Miteinander funktioniert hier landesweit am schlechtesten, so eine Studie. "Wenn man durch Boston läuft und Schwierigkeiten hat, jemanden zu finden, der Englisch spricht, dann ist das schrecklich", sagt ein Passant.Yvonne Stevens ist Mitglied von UKIP, der Partei, die seit über 20 Jahren für Großbritanniens Austritt aus der EU kämpft.

Kurz vor der großen Abstimmung fühlt sich die Unabhängigkeitspartei ihrem Ziel so nahe wie nie. "Wenn wir aus der EU raus sind, haben wir die Möglichkeit, uns in Stellung zu bringen. Es gibt uns die Sicherheit, die Grenzen zu schließen und die Kontrolle zu haben, die wir momentan nicht haben", sagt sie.Die Finanz-Elite in der Londoner City ist sich dagegen sicher: Bereits die Debatte um den Ausstieg schadet - London verzeichnet deutlich weniger Investitionen. Investmentbanker Justin Stewart ist für den Verbleib in der Union: "Mal ehrlich, die EU ist der weltgrößte Handelsblock. Es mag ja sein, dass er nicht besonders gut geführt ist. Aber wenn etwas nicht gut funktioniert, sollte man doch versuchen dafür zu sorgen, dass es besser läuft und dass es ein Erfolg wird!"

Fischer: 23. Juni ist Schlüsseltag für Europa

Sieben Jahre lang hat Ex-Außenminister Joschka Fischer in Brüssel die europäischen Werte hochgehalten. Für ihn erreicht die EU mit der Brexit-Abstimmung eine neue - aber wenig verwunderliche - Eskalationsstufe. "Einerseits gibt es das Effizienz-Defizit der Union: Die Union kann nicht liefern, was die Menschen erwarten, weil die Nationalstaaten das nicht zulassen", sagt Fischer. "Und auf der anderen Seite gibt es aber das große Sinn-Defizit: Wohin will dieses Europa? Was ist sein Zweck?"

Wie auch immer die Briten am 23. Juni abstimmen: Dieser Tag sei ein Schlüsselmoment für Europa, betont Ex-Außenminister Fischer. Es gehe darum, neue Ziele festzulegen: "Eine Neuverteilung der Macht zwischen den Nationalstaaten und Europa, eine Neuverteilung auch des Geldes - auch das wird eine Rolle spielen - und eine Neuverteilung auch der Souveränität", sagt er.

Fischer selbst sieht die Zukunft nicht in einem Weniger von Europa, sondern in mehr Zusammenarbeit. Deutsche und Franzosen müssten vorangehen – müssten festhalten an der großen Idee. "Europa ist vor allen Dingen eine große Friedensordnung. Und Europa ist gebaut gegen den Nationalismus. Europa ist der immerwährende Kompromiss. Kompromiss heißt: sich mit den Nachbarn vertragen. Alle haben so ihre Marotten auch. So ist das halt im Leben."

Weblink:

Europa ohne Zukunft? - www.heute.de