Die öffentliche Diskussion zur Flüchtlingskrise ist von
Extremen geprägt. Der Soziologe Armin Nassehi sieht Romantisierung auf
der einen Seite und Schwarzmalerei auf der anderen. Im
heute.de-Interview erklärt er, warum er auf eine sachlichere Debatte
hofft.
heute.de: Das Thema Flüchtlinge ist allgegenwärtig. Beobachten Sie bei diesem Thema eine Spaltung der Gesellschaft?
Armin Nassehi:
Eine Spaltung der Gesellschaft beobachte ich nicht. Man kann aber
durchaus beobachten, dass fast niemand an diesem Thema vorbei kommt.
Andere Themen der letzten Zeit, wie die Griechenland- oder die
Staatsschuldenkrise gingen auch nicht an den Menschen vorbei, waren aber
nicht so transparent und wirkten viel komplexer. Hier aber wird Politik
tatsächlich richtig sichtbar und konkret.
heute.de: Trotzdem erleben wir es oft, dass die Meinungen ziemlich heftig aufeinander treffen.
Nassehi:
Das ist richtig und gehört durchaus zu einer demokratischen Kultur. Es
gibt in der Tat sehr unterschiedliche Meinungen. Man kann das in der
Zeitachse beobachten: Es gab im Sommer eine sehr positive Stimmung und
viel Offenheit zu diesem Thema. Zurzeit erleben wir hingegen sehr viele
skeptische Stimmen, weil einfach konkrete Probleme gelöst werden müssen:
Man stellt fest, dass man die Flüchtlingszahlen nicht einfach so
verringern kann und dass hier womöglich am grundlegenden
Selbstverständnis unserer Gesellschaft gerüttelt wird. Es ist aber auch
eine Chance: Wir müssen nämlich endlich zugeben, dass wir ein
Einwanderungsland sind. Diese Einsicht erzeugt natürlich auch Sorgen und
durchaus auch eine Gegnerschaft.
heute.de: Gab es schon einmal eine so große Meinungsverschiedenheit in den letzten Jahrzehnten in Deutschland?
Nassehi:
Ja, die großen historischen Themen in Deutschland hatten das alle.
Denken Sie an die Nachrüstungsdebatte oder an die Debatte um die
deutsche Wiedervereinigung. Auch die aktuelle Situation ist eine
historische. Einerseits müssen wir mit sehr vielen Flüchtlingen umgehen,
andererseits können wir nicht mehr so tun, als würden wir auf einer
Insel leben. Wir müssen uns der Situation stellen, dass wir in Zukunft
auf organisierte, gewollte und politisch gestaltete Einwanderung
angewiesen sind - auch aus sehr eigennützigen Motiven übrigens. Ich
glaube, dass die Flüchtlingskrise ein Auslöser einer solchen Debatte
sein kann und da ist es auch gar nicht falsch, dass da um
unterschiedliche Positionen gerungen wird. Die Extreme sind nur die
Ausschläge einer Debatte, die zum Teil mit einer großen Ernsthaftigkeit
geführt wird.
heute.de: Also gehört der Großteil der Menschen eher zur Mitte und nicht zu den Extremen?
Nassehi:
Ja genau. Die veröffentlichte Meinung, also das, was man in den Medien
sieht, konzentriert sich natürlich eher auf die Extreme. Das sind Dinge,
die mehr Aufmerksamkeit produzieren. Das normale Leben ist meistens
gemäßigter, da gibt es natürlich sowohl Zweifel als auch Hoffnungen.Der Ton wird aber erheblich rauer. Manche Reaktionen, die wir zum
Beispiel auf die Pegida-Ausschreitungen vom Montag oder von einem
AfD-Politiker am Sonntagabend im Fernsehen gehört haben, machen
deutlich, dass Rechtsradikale das Thema instrumentalisieren. Ich bin
dennoch ein Optimist und denke, dass die Debatte, die wir ab hier
führen, sachlicher sein wird.
heute.de: Woran machen Sie das fest?
Nassehi:
Wir müssen inzwischen Sachprobleme lösen. Das liegt schlicht dran, dass
die Menschen da sind und sich Grenzen nicht einfach schließen lassen,
wie manche naiven Erwartungen das nahelegen. Wenn das Wetter schlechter
wird oder es kälter wird, müssen die Menschen ein Dach über dem Kopf
haben und versorgt werden. Da stellen wir fest, dass es womöglich gar
nicht an den Organisationsproblemen und nicht am Geld liegt, sondern an
der Verwaltungsstruktur. Es finden sachliche Diskussionen darüber statt,
wie man Dinge beschleunigen kann, wie man Kommunen helfen kann, wie man
Finanzierungsprobleme lösen kann und wie man Integrationshilfen geben
kann.
heute.de: Werden die Menschen also wieder in die Mitte geholt?
Nassehi:
Ja, ich hoffe es. Gerade die, die unterschiedliche Positionen in der
Mitte haben, müssen klare Kante zeigen gegen die zum Teil faschistoiden
Sätze, die man zu hören kriegt - und das nicht nur auf der Straße in
Dresden, sondern bis in die Feuilletons hinein. Vielleicht aber ist das,
was am Montag in Dresden stattgefunden hat, der Anfang vom Ende von
Pegida. Für die bürgerliche Mitte, die ja angeblich dort mitläuft, muss
spätestens hier deutlich werden, dass es sich um extremistische
Auswüchse handelt, nicht um den sprichwörtlichen "besorgten Bürger“.
Diese Bewegung delegitimiert sich gerade selbst. Aber es besteht die
Gefahr einer Radikalisierung eines kleinen unbelehrbaren Restes, der vor
Terrorismus nicht zurück schreckt. Es gibt durchaus Parallelen zur
Entwicklung des Linksterrorismus in den 1970er Jahren, der zu dem
Zeitpunkt in den Untergrund ging, als die Studentenbewegung sich mit der
Mitte der Gesellschaft zu arrangieren begann.
heute.de: Wie groß ist die Bedeutung des Themas im Alltag der Menschen?
Nassehi:
Riesengroß. Es ist ein Thema, an dem man nicht vorbei kommt. Sie werden
kaum Diskussionsrunden privater oder öffentlicher Natur finden, bei
denen dieses Thema keine Rolle spielt.
heute.de: Wie sehen Sie die Rolle der Medien in dieser Diskussion?
Nassehi:
Die Medialisierung eines solchen Themas bedeutet fast immer
gleichzeitig auch eine Dramatisierung. Auf der anderen Seite finden wir
in den Medien durchaus auch die Möglichkeit einer sowohl
differenzierten, als auch zukunftsorientierten Diskussion über die
Situation. Man kann sich durch unsere Medien sehr gut informieren. Ich
würde sagen, die Medien bilden das Spektrum ab, das wir in der
Gesellschaft zurzeit auch haben.
heute.de: Wie kann man die Verschiebung hin zu den Extremen überwinden oder verhindern?
Nassehi:
Nur durch gelungene Integrationsbemühungen. Wenn wir an die Geschichte
der Migration in Deutschland denken, hat man immer wieder so getan, als
würde gerade das Abendland untergehen, aber nach einiger Zeit haben sich
die Dinge dann doch irgendwie geregelt. Ich hoffe, dass man durch
dieses Thema auch eine gemäßigt konservative Mitte dazu bekommt,
realistischer einzuschätzen, wie stark unsere Gesellschaft schon immer
durch Migration geprägt war und weiter geprägt sein wird. Vielleicht
gelingt es gerade jetzt, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden und
zu unserer Migrationsrealität zu stehen - mit all ihren Problemen, die
Einwanderung stets mit sich bringt. Aber auch damit, dass unsere
Gesellschaft von einer aktiven Einwanderungspolitik profitieren wird.
Wichtig ist, dass wir jetzt weder romantisieren und denken, dass sich
alles von selbst regelt, noch so tun, als hätten wir nicht die
Möglichkeit und die Ressourcen, die anstehenden Probleme zu meistern.
Beides stimmt nämlich nicht.
Weblink:
"Eine Spaltung der Gesellschaft sehe ich nicht" - www.heute.de