Der Terroranschlag auf „Charlie Hebdo“ hat Frankreich aus einer tiefen Lethargie gerissen. Das Land, zerrieben durch die chronische Identitätskrise und geschwächt von der andauernden Wirtschaftskrise, wirkte wie im Kummer über das eigene Schicksal erstarrt. Doch nun hat das Blutbad im 11. Arrondissement, mitten in ihrer Hauptstadt, die Franzosen aus der Lethargie gerissen. Eine erschöpfte Gesellschaft ist zu neuem Leben erwacht. Für diese Gesellschaft ist der Anschlag nicht nur eine Zäsur, sondern auch ein Moment der Bewährung.
Zu Zehntausenden zog es sie in allen Landesteilen auf die Straße, um gegen den Terror und für die Meinungs- und Pressefreiheit einzutreten. Mehr als hunderttausend Personen demonstrierten im ganzen Land trotz der Terrorwarnungen noch am Abend nach der Greueltat. Weitere in den nächsten Tagen geplante Solidaritätskundgebungen dürften noch mehr Bürger mobilisieren.
Die alte Demokratie Frankreich, die sich immer weiter von ihren Idealen
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entfernt aht, erwacht zu neuer Vitalität und entdeckt ihre demokratischen Wurzeln neu. Noch ist nicht ausgemacht, dass dies der geprüften Republik dauerhaft Kraft und Stärke verleiht. Aber die ersten zaghaften Anzeichen einer Umkehr sollten nicht übersehen werden. Die etablierten Parteien, die ihre Energien in den vergangenen Jahren in endlosen Grabenkämpfen aufbrauchten, finden in der Stunde der Prüfung zu Geschlossenheit. Präsident François Hollande hat seinen Erzrivalen und Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy empfangen.
Schon der deutsche Dichter Heinrich Heine bemerkte in seinem Pariser Exil:
„Der Franzose liebt die Freiheit wie seine erwählte Braut. Er schlägt sich für sie auf Tod und Leben.“ Die Franzosen haben nicht lange gebraucht, um die Ermordung der Journalisten und Zeichner der satirischen Wochenzeitschrift „Charlie Hebdo“ und der beiden Polizisten als Angriff auf ihre Freiheit zu verstehen.
Nun gehen sie also in stummen Protest auf die Strassen von Paris. Unter den Demonstranten, die spontan ihre Solidarität mit den Ermordeten bekundeten, waren die wenigsten Leser von „Charlie Hebdo“. Aber sie haben gespürt, dass der Angriff auf diese kleine, von libertärem Geist und Witz geprägte Redaktion ihre über Revolutionen und Kriege errungene Lebensform bedroht.
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