Es ist paradox: Japan hat eine breite Bewegung gegen Atomwaffen,
aber keine gegen Atomkraft. Im Land der aufgehenden Sonne gibt es keienn
Widerstand und die Unterstützung und Akzeptanz der zivilen Nutzung der
Kernenergie hält an. Die Regierung sorgte dafür, dass der Widerstand
gegen die Atomkraft begrenzt bleibt. Nach der Atomkatastrophe von
Fukushima könnte sich das nun ändern.
Als vier Jahren das größte Kernkraftwerk der Welt von einem Erdbeben der
Stärke 6,6 auf der Richter-Skala erschüttert wurde, ordnete die
Regierung die Schließung an, die fast zwei Jahre andauern sollte.
Tausende Familien und Geschäftsreisende sagten ihre Aufenthalte in den
Hotels und Wellness-Oasen an der Küste ab. Aber die Fortsetzung von
Japans umfangreichem Kernenergieprogramm stand nie zur Disposition.
Die Haltung der Japaner gegenüber der Atomkraft erstaunt die
Öffentlichkeit im Westen und zumal in Deutschland, wo der Widerstand
gegen Kernkraftwerke ein ganzes politisches Milieu eint und eine eigene
Partei hervorgebracht hat. Wie kommt es, dass in eben jenem Land, das am
Ende des Zweiten Weltkrieges selbst die Schrecken der Atombombe erlebt
hat, die Unterstützung und Akzeptanz der zivilen Nutzung der Kernenergie
so unerschütterlich zu sein scheint? Tatsächlich ist das ein Paradox:
1954, knappe zehn Jahre nach Ende des Krieges, wurde ein japanisches
Fischerboot von einem amerikanischen Atomtest im Pazifik verstrahlt und
dadurch zum Symbol des Protests gegen Atomwaffen, der zu einer
Massenbewegung anwuchs. Im selben Jahr schuf die amerikanische Regierung
die Möglichkeit, Reaktoren zu exportieren - und Japan begann mit der
Planung seines umfangreichen Kernenergieprogramms.
Wie passt das zusammen? In der Tat ist die Anti-Atomwaffenbewegung
in Japan bis heute die größte zivilgesellschaftliche Gruppe. In den
Jahren nach dem Abzug der Amerikaner 1952 entstand eine eigene Form des
antinuklearen Nationalismus: Japan stilisierte sich zum einzigen Land,
das je eine atomare Katastrophe erfahren hatte, und nun dafür
prädestiniert sei, die Welt vor dem Atomkrieg zu retten.
Die Massenbewegung gegen Atomwaffen hat jedoch nicht dazu geführt,
dass auch die Mobilisierung gegen die Kernenergie zu einer starken
politischen Kraft geworden wäre. Tatsächlich gibt es in der Praxis nur
wenige Verbindungen zwischen beiden Strömungen. Das ist umso
überraschender, als angesichts des eng besiedelten Landes und der
allgegenwärtigen Erdbebengefahr die Formierung einer breiten
Protestbewegung sehr viele Anknüpfungspunkte gehabt hätte.
Ob nach der Atomkatastrophe in Kernkraftwerk Fukushima eine
Atomdebatte in der Gesellschaft Japans einsetzen wird und eine
Massenbewegung gegen Atomkraft in Japan entstehen wird, ist derzeit noch
nicht abzusehen. Japan steht noch zu sehr unter Schock, als dass sich
derzeit Kräfte gegen die Atomkraft mobilisieren lassen.
Man hat daher auch das gesamte Arsenal der Japan-Klischees aufgefahren, um diese scheinbare Diskrepanz zu erklären: den autoritären Staat, die Hierarchien der politischen Kultur, eine Mentalität der Konfliktvermeidung. Oder den Konfuzianismus, die Samurai-Ethik, die Kirschblüte.
Es scheint nach wie vor legitim, Analysen der japanischen Gesellschaft in Form von kulturellen Stereotypen zu formulieren, wie sie etwa für den französischen Fall - mit seiner noch viel stärkeren Abhängigkeit vom Atomstrom und einer schwachen Anti-Atombewegung - undenkbar wären. Oder für den eigentlichen Ausreißer im internationalen Vergleich, Deutschland.
Weblinks:
Japan Dossier - www.tagesschau.de/ausland
Fukushima-Blog - fukushima.blog.de