Mittwoch, 1. Oktober 2008

Die Ära der Vereinigten Staaten ist vorbei

Die Aufmerksamkeit mag derzeit nur auf die kollabierenden Finanzmärkte gerichtet sein. Doch der Aufruhr, den wir erleben, ist mehr als eine Finanzkrise, egal, wie groß sie auch sein mag. Was gerade geschieht, ist eine historische geopolitische Wende: Das Gleichgewicht der Kräfte verändert sich, und zwar unwiderruflich. Die Ära der amerikanischen Führung ist vorbei.

Man erkennt das schon allein daran, wie die Macht der USA in ihrem eigenen Hinterhof untergraben wird. Venezuelas Präsident Hugo Chávez kann die Supermacht necken und verspotten, so viel er will, bestraft wird er dafür nicht. Auf globaler Ebene wird Amerikas Schwäche noch deutlicher. Mit der Verstaatlichung zentraler Teile ihres Finanzwesens haben die Vereinigten Staaten ihr Credo der freien Märkte selbst zerstört. Eine ganze Regierungsform mitsamt ihrer Ökonomie ist kollabiert. Die Folgen werden so weitreichend sein wie beim Untergang der Sowjetunion.

Seit dem Ende des Kalten Krieges haben amerikanische Regierungen andere Länder darüber belehrt, wie wichtig solide Finanzen seien. Indonesien, Thailand, Argentinien und verschiedene afrikanische Staaten mussten heftige Konjunkturabschwünge verkraften, um Hilfe vom Internationalen Währungsfonds (IWF) zu erhalten. Der IWF hat die amerikanische Orthodoxie weltweit durchgesetzt. Besonders China wurde pausenlos wegen der Schwäche seines Bankensystems schikaniert. Dabei ist es gerade seine Geringschätzung für Ratschläge aus dem Westen, das dieses Land so erfolgreich gemacht hat – und es sind nicht seine Banken, die gerade pleitegehen. Es war bezeichnend, dass chinesische Astronauten einen Weltraumspaziergang machten, während der amerikanische Finanzminister am Boden kniete.

Obwohl die Vereinigten Staaten andere Länder unaufhörlich gedrängt haben, ihr Geschäftsmodell zu übernehmen, haben sie die eigene Wirtschaftspolitik völlig anders ausgerichtet. In all den Jahren, in denen die USA andere Länder bestraft haben, die finanziell unbesonnen auftraten, haben sie selbst riesige Kredite aufgenommen, um Steuerkürzungen und ihre immer gigantischere Ausmaße annehmenden Militäreinsätze zu bezahlen. Jetzt ist das Land auf ausländisches Kapital angewiesen. Und die Länder, die Amerikas Kapitalismusmodell verschmäht haben, bestimmen seine wirtschaftliche Zukunft. Wie US-Finanzminister Henry Paulson und Notenbankchef Ben Bernanke die amerikanischen Finanzinstitutionen zusammenflicken, ist jedoch weniger interessant als die Frage, was diese Rettung für die Stellung des Landes in der Welt bedeutet. Das Geschwätz über gierige Banken, das derzeit im US-Kongress ventiliert, lenkt von den echten Ursachen der Krise nur ab. Der schlimme Zustand der amerikanischen Finanzmärkte ist eine Folge davon, dass die Banken dort völlig frei agieren konnten. Dafür haben dieselben Gesetzgeber gesorgt, die die Krise nun beenden sollen. Amerikas politische Klasse trägt die Schuld am Chaos, weil sie immer auf dieselbe schlichte Ideologie der Deregulierung gesetzt hat. Der beispiellose Eingriff der Politik ist momentan das Einzige, was eine Marktkatastrophe abwenden kann.

Als Folge davon wird Amerika aber noch stärker als zuvor von den aufstrebenden Mächten dieser Welt abhängig sein. Die Regierung sammelt noch größere Kredite ein als früher, und die Geldgeber können zu Recht befürchten, dass diese nie zurückgezahlt werden. Es könnte gut sein, dass die USA ihre Schulden mit einem Anstieg der Inflation verringern, was ausländischen Investoren erhebliche Verluste bescheren würde. Werden jene Regierungen, die große Mengen amerikanischer Anleihen gekauft haben – beispielsweise China, die Golfstaaten und Russland – bereit sein, den Dollar unter solchen Umständen noch als Leitwährung zu stützen? Oder werden sie es als Chance begreifen, das ökonomische Machtverhältnis zu ihren Gunsten zu kippen? So oder so: Die Kontrolle liegt nicht mehr in amerikanischen Händen.

Das Schicksal von Imperien besiegelt oft eine Wechselwirkung aus Krieg und Schulden. Das galt für das britische Imperium, dessen Finanzlage sich nach dem Ersten Weltkrieg immer weiter verschlechterte, und es galt für die Sowjetunion. Die militärische Niederlage in Afghanistan und die wirtschaftliche Belastung durch den Versuch, mit Reagans technisch mangelhaftem, aber politisch extrem effektivem „Star-Wars”-Programm gleichzuziehen, waren die zentralen Ursachen für den sowjetischen Kollaps. Trotz seiner beharrlich behaupteten Ausnahmestellung wird Amerika keine Ausnahme sein. Der Irak-Krieg und die geplatzte Kreditblase haben seine Vormachtstellung ausgehöhlt. Die USA werden noch eine Zeit lang die größte Wirtschaftsmacht der Welt sein. Aber es werden die neuen, aufstrebenden Mächte sein, die nach der Krise all das aufkaufen, was im Trümmerhaufen des amerikanischen Finanzsystems noch intakt ist.

In den vergangenen Wochen ist viel von einem drohenden finanziellen Armageddon geredet worden. In Wahrheit sind wir vom Ende des Kapitalismus weit entfernt. Die Panik in Washington markiert nur das Ende einer seiner Spielarten – die eigenartige und im hohem Maße instabile Variante, die seit 20 Jahren in Amerika existiert. Dieses Experiment des finanziellen Laisser-faire ist implodiert. Die Folgen wird man überall spüren. Doch die Marktwirtschaften, die das amerikanische Deregulierungsmodell nicht übernommen haben, werden den Sturm am besten überstehen. Großbritannien, das sich selbst in einen riesigen Hedgefonds verwandelt hat – aber einen von der Sorte, die von fallenden Kursen nicht profitieren – wird wahrscheinlich besonders böse getroffen werden.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass auf den Untergang des Kommunismus der Aufstieg einer anderen utopischen Ideologie folgte. Vor allem in den USA und in Großbritannien wurde eine Art Marktfundamentalismus zur Staatsphilosophie. Wie der Absturz der UdSSR wird auch der Niedergang der USA gewaltige geopolitische Nachwirkungen haben. Ihre entkräftete Ökonomie kann die Militäreinsätze nicht mehr bezahlen. Der Rückzug ist unausweichlich, und er wird nicht geordnet verlaufen.

Kernschmelzen dieser Größenordnung geschehen nie in Zeitlupe. Sie sind schnell und chaotisch, mit sich rapide ausbreitenden Nebeneffekten. Man denke nur an den Irak: Der relative Friede in Teilen des Landes wurde durch die Bestechung der Sunniten erreicht, unter Duldung anhaltender ethnischer Säuberungen. Wie lange wird das so bleiben, wenn Amerika seine Ausgaben für den Krieg zurückfährt? Ein Rückzug aus dem Irak wird Iran als regionalen Sieger zurücklassen. Wie wird Saudi-Arabien darauf reagieren? Wird eine militärische Intervention, die verhindern soll, dass Iran Atomwaffen herstellt, wahrscheinlicher oder nicht? Chinas Führung hat sich bislang bedeckt gehalten. Wird Amerikas Schwäche sie ermutigen, die eigene Macht zur Geltung zu bringen? Oder werden sie ihre vorsichtige Taktik eines „friedlichen Aufstiegs” fortsetzen? Im Moment kann niemand solche Fragen beantworten. Augenscheinlich ist nur, dass die USA immer schneller an Macht verlieren. Der Fall von Georgien hat gezeigt, wie Russland die geopolitische Landkarte neu zeichnet, während Amerika als impotenter Zuschauer danebensteht.

Die amerikanischen Politiker, welche die Bedingungen für die größte Wirtschaftsblase aller Zeiten geschaffen haben, scheinen unfähig zu sein, die Gefahren zu sehen, die ihrem Land gerade drohen. Sie führen miteinander ihre erbitterten Kulturkämpfe und merken nicht, wie schnell die Führungsrolle der USA verschwindet. Eine neue Welt entsteht, fast unbemerkt. Und Amerika wird darin nur noch eine von mehreren großen Mächten sein, mit einer ungewissen Zukunft, die es nicht mehr selbst bestimmen kann.

John Gray ist emeritierter Professor für Europäische Ideengeschichte an der London School of Economics. Deutsch von Marc Felix Serrao.

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