Die Ostdeutschen haben nach ihren jahrzehntelangen negativen Erfahrungen mit dem DDR-Staat eine zweite Enttäuschung mit dem westdeutschen Staat erlebt. Dies ist, vereinfacht ausgedrückt und auf einen Nenner gebracht, die Grundsituation 30 Jahre nach dem Fall der Mauer.
Im Mittelpunkt dieser doppelten Enttäuschung steht der Begriff Freiheit. In den langen Jahren der SED-Diktatur wurde sie sehnsuchtsvoll erwartet, ihre Abwesenheit schmerzlich empfunden. Als sie endlich da war, brachte sie nicht, was man sich von ihr versprochen hatte. Oder nur einen Teil davon.
Welches sind die Gründe für diese Desillusionierung? Der erste war, dass der Prozess der Wiedervereinigung von Anfang an im Wesentlichen vom westdeutschen Staat, von den westdeutschen Parteien und den westdeutschen Konzernen bestimmt wurde. Dieselben ostdeutschen mündigen Bürger und Bürgerinnen, die es geschafft hatten, aus eigener Kraft der SED-Herrschaft ein Ende zu setzen, wurden bald von Westdeutschland weniger als gleichwertige Partner denn als unmündige Untertanen behandelt. Sie waren gewiss frei, die Neubundesbürger, und dennoch gerieten sie sofort in eine neue Abhängigkeit.
Man hatte es in Westdeutschland eilig, klar zu stellen, wer Herr im Hause war, wer das Sagen hatte. Deshalb zögerte man nicht, die Vereinigung durch Machtpolitik zu beschleunigen, eine Machtpolitik,die diesmal nicht gegen einen inneren oder äußeren Feind, sondern gegen die eigenen Landsleute gerichtet wurde. De jure verlief alles in korrekten Bahnen – de facto aber war es im Grunde ein Diktat. So empfand es auf jeden Fall ein beträchtlicher oder gar mehrheitlicher Teil der 17 Millionen Ostdeutschen.
Die Überwindung der geopolitischen Spaltung kam nicht durch einen Dialog unter Gleichen zustande, sondern ähnelte mehr einer Okkupation und einer Machtdemonstration gegenüber dem schwächeren Partner. Dass in diesem Zusammenhang der Einigungsvertrag gelegentlich mit dem Ermächtigungsgesetz verglichen wurde, war bezeichnend genug, obwohl der Vergleich überzogen und rein sachlich unakzeptabel war. Aber genauso unzutreffend war, die DDR-Diktatur mit der Naziherrschaft in einen Topf zu werfen, wie es nicht wenige Deutsche aus West und Ost taten.
Dazu wäre mit Friedrich Schorlemmer zu sagen: »Ich fühlte mich von meinem 17. bis 45. Lebensjahr in der DDR eingemauert, und ich schämte mich für das Land, aus dem ich kam. Aber ich war und bin froh, dass ich nicht im Dritten Reich habe leben müssen, auch wenn es schwer war, in Ulbrichts Mauerstaat ein eigenständiges und würdiges Leben zu führen« (Absturz in die Freiheit).
Kritik am Verhalten Westdeutschlands wurde böswillig und selbstgefällig als Mangel an demokratischer
Gesinnung oder als Nostalgie nach dem DDR-Staat, bestenfalls als Undankbarkeit gegenüber der vom westdeutschen Staat erhaltenen Hilfe ausgelegt. Und natürlich war es hoch unwillkommen, auf die positiven Aspekte des SED-Regimes hinzuweisen. Überhaupt galt das Wort »Sozialismus« als Unwort, auch dann, wenn die Rede ausdrücklich von einem demokratischen und humanen Sozialismus war. Einzig legitim war die in der Bundesrepublik und in der westlichen Welt herrschende bürgerlich-kapitalistische Ordnung.
Die Beseitigung des Mauerstaats schloss stillschweigend und wie selbstverständlich die Verbannung jedes Gedankens ein, der das Dogma der freien Marktwirtschaft in Frage stellte. Auch und gerade in dieser Hinsicht Bevormundung und Belehrung, Dogmatik und Einheitsdenken. Ich spüre wenig Lust, mich eingehend mit dem strittigen und traurigen Kapitel der Abrechnung mit den ehemaligen politischen Kadern des DDR-Regimes zu befassen. Andere haben es mit mehr Kenntnissen und mit einem besseren Überblick als ich selber ausführlich getan. Ich habe mich darüber hier und da mündlich und schriftlich geäußert. Ich habe es wieder getan im Zusammenhang mit einem langen Kapitel, das ich Ostdeutschland in meinem jüngsten Buch »Don Quijote in Deutschland« widme. Dort sage ich über den Ritter: »Er war auch gegen die Bestrafung der DDR-Kader.
In seiner eigenen Heimat Spanien wurde nach dem Tod Francos kein einziger Mensch wegen seines Verhaltens während der Diktatur verfolgt oder vor ein Tribunal gestellt. Auch wurde keine Behörde errichtet, um in den Akten zu wühlen und sie öffentlich bekannt zu machen. Würden die siegreichen Westdeutschen dem Beispiel Spaniens folgen oder würden sie den Weg der Vergeltung und der Bestrafung wählen?« Damit will ich nicht sagen, dass wir Spanier es besser machten als die Deutschen, aber vielleicht mit der Klugheit, die schon Aristoteles für eine der wichtigsten persönlichen und gesellschaftlichen Tugenden hielt. Klugheit oder Einsicht in die Notwendigkeit hieß hier, sich von den Fesseln der Vergangenheit zu lösen und ohne Ressentiments und Rachegefühle einen Neuanfang zu wagen. Vielleicht war dabei auch ein bisschen von der Grandezza im Spiel, die man uns Spaniern zuschreibt. Die Deutschen, oder viele von ihnen, zogen die Option der Gesinnungskontrolle, der gegenseitigen Verdächtigungen, der Denunziation und der Angst vor, eine Reaktion, die mich manchmal an die Romane von Kafka und Orwell oder an die McCarthy-Ära in den USA erinnerte.
Zu Recht oder zu Unrecht denke ich, dass es eines großen Kulturvolkes unwürdig ist, sich für eine solche Art von Vergangenheitsbewältigung zu entscheiden, zumal es sich hier um ein Land handelt, in dem im Namen der Staatsraison oder einer Ideologie so viele Verbrechen begangen worden sind. Meine donquijotische Seele vermisste hier jene Generosität, die Spinoza als die einzig für edle Seelen in Frage kommende Haltung betrachtete. Was mir aber am meisten missfiel, war die Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit, mit der sich Westdeutschland über Ostdeutschland erhob und Gericht über es hielt, ohne je auf die naheliegende Idee zu kommen, sich auf die eigenen Versäumnisse und Schandflecken zu besinnen. Ein bisschen Demut wäre gerade in dieser Hinsicht höchst angebracht. Es ist bekannt, für wen das Herz des spanischen Ritters schlug: für die Entrechteten und Unterdrückten, für die Besiegten und Gedemütigten.
Genauso empfand ich von dem Augenblick an, an dem ich ostdeutschen Boden betrat und anfing, Ostdeutschen zu begegnen. Die Verbundenheit, die ich spontan mit ihnen fühlte, hatte nichts mit meiner politischen Einstellung zur DDR und sonstigen Spielarten des Sowjetkommunismus zu tun, zu dem ich seit Beginn meiner politischen Lehrjahre eine sehr kritische Einstellung hatte, wie meine Bücher in spanischer und deutscher Sprache bezeugen. Ich lasse hier wieder Don Quijote zu Wort kommen: »Nach dem Fall der Mauer machte sich Don Quijote auf den Weg zu der ostdeutschen Hälfte der Nation. Oder genauer: Er wurde von einigen der dortigen Bewohner dazu aufgefordert, das Land zu besuchen.
Denn obwohl die ewigen Feinde und Widersacher des Ritters dafür gesorgt hatten, seinen Namen in den Schmutz zu ziehen und ihn als einen verschworenen Feind Deutschlands zu brandmarken, fehlten nicht die ostdeutschen Stimmen, die von ihm Beistand und Orientierung für ihre Sorgen und Kümmernisse erwarteten. Er stieg auf seine Rosinante und suchte den Weg dorthin mit gemischten Gefühlen. Wohl wusste er, was sich seit der Errichtung der DDR durch die sowjetische Besatzungsmacht abgespielt hatte. Andererseits empfand er Mitleid mit den Millionen Menschen, die durch den plötzlichen Zusammenbruch des Regimes um die Grundlagen ihrer Existenz bangten und vor einer ungewissen Zukunft standen.
Die meisten von ihnen freuten sich gewiss auf die Freiheit, die ihnen plötzlich zugefallen war, aber nichtsdestoweniger mussten sie jetzt um ihre Arbeitsplätze, ihr Einkommen und ihre Renten fürchten. Sie zu belehren über das System, das sie jahrzehntelang hautnah erlebt hatten, schien ihm unangebracht und auch überflüssig, zumal sie seine Bücher kannten. Der Ritter sah sie vor allem als Besiegte, und das war schon Grund genug, um nicht über sie herzufallen und sie dadurch noch unglücklicher zu machen, wie es nicht wenige Westdeutsche taten. Kritisch reagierte der Ritter nur, wenn er auf stramme Parteigenossen stieß, die sich weiterhin mit dem System dentifizierten und ihm nachtrauerten, sei es aus Überzeugung oder weil sie von ihm profitiert hatten.« Soweit Don Quijote.
Ich frage mich in diesem Zusammenhang: Ist es nicht Strafe genug, irgendwann feststellen zu müssen, dass man im Dienste einer falschen Sache stand? Hier wäre es nahe liegend, sich auf das christliche Gebot der Barmherzigkeit oder des Erbarmens zu beziehen, und ich tue es auch ausdrücklich, zumal die erste Phase der Wiedervereinigung unter der Ägide einer sich christlich nennenden Partei erfolgte. Aber ich möchte in diesem Kontext in Erinnerung bringen, was zwei atheistische Humanisten wie Albert Camus und Jean-Paul Sartre über Sieg und Niederlage dachten. In seinem autobiographischen, post mortem veröffentlichten Buch »Le premier homme« schrieb Camus:
»... puisque vencre un homme est aussi amer que d' être vaincu« – »denn einen Menschen zu besiegen ist genauso bitter wie besiegt zu werden«. Und nichts anderes meinte der junge Jean-Paul Sartre, als er in »La Nausée« sagte: »Seul les salauds croient gagner« – »Nur die Lumpen glauben zu gewinnen«. Wie schön, wohltuend und fruchtbar für beide Teile Deutschlands wäre es gewesen, wenn die Demiurgen der Einheit dem Beispiel einer solchen Seelengröße gefolgt wären, anstatt auf die schäbige Karte der Bestrafung und der
Vergeltung zu setzen.
Weblinks:
Vom Fall der Berliner
Mauer bis zur deutschen Einheit (1989 - 1990)
Don Quijote in Deutschland
Der Text folgt einem Vortrag, den der Autor am 12. März 2005 in der Lutherstadt Wittenberg im
Rahmen der von der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt veranstalteten Tagung »Deutschland in schlechter Verfassung?« gehalten hat.